Der Verlust der Würde – Moria 2 (Kara Tepé)

von Costas Gianacacos

Die Pandemie, ihre Auswirkungen und vor allem der politische Umgang mit ihr, hat das Drama der Flüchtlinge in Griechenland, hier konkret auf Lesvos und den anderen ostägäischen Inseln, aus dem Alltag hinausgedrängt! Nur wenn eine zusätzliche Katastrophe passiert, wie der Brand im bosnischen Flüchtlingscamp nahe der kroatischen Grenze, sprich, an der Grenze zur Europäischen Union!, da erfahren wir wieder, dass wir uns nach wie vor als Europäer schuldig machen mit der groben Verletzung unserer auf Humanismus gestützten Werte. Die Bilder der Katastrophe haben dann plötzlich wieder Konjunktur, allerdings nur für einige Tage. Die Illusion nimmt wieder ihren Platz in unserem Alltag ein! Indem wir die Bilder nicht sehen, auch nicht an das böse und brutale Schicksal von Menschen auf der Flucht denken, meinen wir, all das gibt es nicht mehr… Wir können im wunderbar kühlen Schatten der Illusion sanft weiterschlafen und unsere Träume von den Zeiten nach der Pandemie pflegen, genießen!

Indessen geht der Alptraum mit einer zermürbenden Selbstverständlichkeit weiter. So zum Beispiel mit der Unterbringung der früheren Moria-Insassen aus Lesvos. Das Entsetzen nach dem Brand im letzten September haben wir inzwischen gut verdaut. Das aber ist trügerisch! Die katastrophale Situation der Flüchtlinge auf der Insel setzt sich fort. Moria existiert nach wie vor! Unter aktivster Mitwirkung des griechischen Staates, unter Sonntagsreden der europäischen Politiker, unter fataler Verwechselung von Ursache und Wirkung! Das neue Unterbringungscamp ist verlegt von den Olivenhainen in Moria an die östliche Küste der Insel mit Blick auf die Türkei gegenüber! Die Flüchtlinge sind von der Kaserne in Moria zum Schiessübungsplatz Kara Tepé gebracht worden und hier müssen sie den Winter überstehen in sommerlichen Zelten, ohne Heizung, ohne Wasser und Hygiene… Im eisigen Wind, in alles durchdringender Feuchtigkeit, im Regen und Schnee, im Schlamm und Wasserpfützen müssen Menschen ihren Platz einnehmen – fast zur Strafe, weil sie die Idylle einer mythischen Deutung der Welt und der sie zusammenhaltenden Werte zerstören, mit ihrer Ankunft unsere heile Konsumwelt und das Versprechen auf Gerechtigkeit und Freiheit konterkarieren… Ja, die Menschen werden absichtlich bestraft, weil sie unser europäisches Nirwana stören! Unter von der Europäischen Union sekundierten Psalmengesängen tönt ein griechischer Minister, wir sollten den Flüchtlingen das Leben so erschweren, dass sie um Griechenland einen Bogen machen, das Land soll seine „Attraktivität“ verlieren… Welche Verrohung! Aber er ist der stellvertretende Vorsitzende der Regierungspartei „Nea Demokratia“ und Wirtschaftsminister im Kabinett von Kyriakos Mitsotakis. Gleich auch der gegenwärtige Migrationsminister, Mytarakis, lässt mit seinen diffusen Plänen in keiner Weise nach! Er besteht auf geschlossene Unterbringungszentren, ein billiger Euphemismus zum Begriff „Gefängnisse unter freiem Himmel“ um nicht ein noch böseres und äußerst vorbelastetes Wort zu gebrauchen! Hier sollen zukünftig, im Gegensatz oder als nüchterne Erweiterung von Moria lässt sich berechtigterweise fragen, die Flüchtlinge ihren Platz einnehmen und warten, warten, warten bis die europäische Politik sich ihrer erbarmt und sich politisch bewegt! In Welcher Richtung? In schlichtem Deutsch ist die Frage fast von sich aus beantwortet: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Politisch Verfolgte genießen Asyl. Rechtstaatlichkeit für alle! Die Genfer Konvention ist bindend!

Moria galt als die Schande Europas! Auch der möglicherweise nächste Bundeskanzler, Armin Laschet, war entsetzt und sprach mit entsprechendem Vokabular bei laufenden Kameras, als er Moria im August 2020 besuchte! In Moria war man Zeuge von dramatischen Situationen, Verarmung, Verelendung, Brutalität, Lügen und Hoffnungslosigkeit auf der einen Seite. Auf der anderen jedoch erlebten wir auch eine beispielhafte Kreativität. Bilder der Hoffnung begleiteten zugleich auch jeden der Moria besuchte. Die Menschen hier versuchten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht zu erhalten. Sie organisierten sich, halfen sich gegenseitig. Zwar auf einer primitiven Ebene, das gaben die Möglichkeiten her, entstand trotzdem Schulunterricht, kleine Kiosk und Märkte, es wurde sogar musiziert und Kultur betrieben… In Moria war etwas im Entstehen, aus der totalen Not heraus, aus dem urmenschlichem Trieb zum Überleben heraus! Anstatt diese Kreativität und Kraft und die Hoffnung zu unterstützen, hat die europäische Politik, diese bei uns schutzsuchenden Menschen enttäuscht, sie als Gefahr eingestuft, macht sie ständig kaputt! Die Antwort auf Moria nach dem Brand heißt nun Kara Tepé, ergo Moria 2! Den Menschen im jetzigen Lager geht es genauso schlecht wie früher, wenn sogar nicht noch schlimmer, wie eben Menschenrechtsorganisationen und Helfer vor Ort berichten. Nichts hat sich in Punkto Hygiene, und die Pandemie verschärft diese Probleme, verbessert! Wenige Toiletten, kein Warmwasser, Schlamm, Menschen in durchregneter Kleidung, Einsperrung, Unterdrückung. Und tausende von Kinder ohne Schulunterricht! Hoffnungslosigkeit.

Und wie kommt man mit solcher Last in die Zukunft? Welche Antworten und Pläne hat die griechische Regierung und das insgesamt stolz konservativ regierte Europa auf solche Probleme? Nein, hier geht es nicht um die quasi von Polen oder Ungarn gerne zu übernehmenden Abschiebungspatenschaften… Die großartige europäische Antwort heißt für die Flüchtlinge auf Lesvos und im Anschluss für die anderen ostägäischen Inseln: „geschlossene Unterbringungszentren“. Zur Problematik des Begriffs möchte ich mich nicht wiederholen. Die Erklärung des Vorhabens lässt nichts Gutes ahnen! Weder für die Flüchtlinge noch für die Insulaner, für die örtliche Gesellschaft!

Ein neues Camp wird aufgebaut, fern von der Bevölkerung, irgendwo im Nirgendwo, auf dem Berg, dort wo keine Straße hinführt, wo die Flüchtlinge isoliert von der Bevölkerung abwarten, abwarten. Eine Verbannung? Und wie viele Menschen sollen hier untergebracht werden? Wie sieht die Infrastruktur vor Ort aus? Man spricht von ca. 5.000 Insassen.  Wenn wir vom Organisationstalent und -eifer der heutigen griechischen Regierung ausgehen, dann gehen wir davon aus, dass hier alle Ankommenden, unabhängig, wie viele es bald sein würden, da Herr Erdogan auch einiges mitzudiktieren hat, Platz nehmen müssen! Die angegebene Anzahl erscheint hier eher willkürlich als überlegt zu sein…

Im Moment werden mit aktiver Duldung der Europäischen Union auf Lesvos die Menschenrechte verletzt, die Genfer Konvention bewusst untergraben, die illegalen Rückführungen fortgesetzt, die Flüchtlinge entrechtet! Es gibt keine Kontrolle zum unwürdigen Geschehen im Lager Kare Tepé – Moria 2. Und nach Informationen von Helfern vor Ort wird sogar auf Flüchtlinge Druck ausgeübt, damit sie in ihre Länder zurückkehren! Apropo Informationen: heute erfuhren wir, Dienstag, den 19. Januar 2021, dass Journalisten der Zutritt ins neue Lager verwehrt wird! Es fragt sich nur, warum dies? Auch die Kommunikation der Insassen mit der Außenwelt wird zunehmend erschwert, wie die Hilfsorganisationen vor Ort melden! Offensichtlich will die griechische Regierung keine Zeugen, keine Dokumentationen der Situation der Lebensbedingungen erlauben!

Die Flüchtlinge aus Moria sind nach Kara Tepé gebracht worden, in einem Ort von militärischer Bedeutung. Inzwischen dürfen sie nicht mal sich selbst fotografieren, wegen dieser militärischer Bedeutung… Wer erwischt wird, eine Mitteilung nach Hause oder wohin geschickt zu haben, dem droht die Abnahme des Handys! Es hört sich unglaublich an, ist aber leider wahr! Vielleicht denkt man tatsächlich, und zwar in abergläubischer Manier, was nicht sichtbar ist, ist auch nicht existent!

Berechtigterweise frage ich mich, und das tun zugleich viele, viele Menschen, warum entgleitet der griechischen Regierung und der örtlichen damit betrauten Verwaltung die Situation auf solcher Weise?  Eine vernünftige Antwort bleibt mir und uns allen vergönnt. Mit ist es bewusst, es handelt sich um eine „konservative“ Politik, die auf Abschottung und infolgedessen auf Ablehnung von Flüchtlingen abzielt, die Festung Europa verlangt ihren Preis, ihre Opfergaben! Anhand dessen, was auf Europas Grenzen tagtäglich passiert, ist dieses Kalkül nicht nur fragwürdig, es ist die praktizierte Brutalität!  Absichtliche Brutalität und Barbarei! Man muss ja vor Augen halten, dass Moria 2 (Kara Tepé) entstanden ist, damit der griechische Staat endlich den Beweis liefert, er kann Missstände bekämpfen und das „Flüchtlingsproblem“ neu ordnen! Dieser Beweis ist bisher nicht erbracht, im Gegenteil, die Situation hat sich zunehmend verschlechtert! Absichtlich verschlechtert! Es ist sehr schwer so etwas zu akzeptieren, zu glauben… Auch frage ich mich immer wieder, sieht niemand in der Europäischen Union, was hier passiert? Warum erlaubt man sich so in einer miesen Mitverantwortung hineingezogen zu werden? Welche politischen Kräfte und welche krude Ansichten müssen hiermit bedient werden? Ich kann mir sehr schwer vorstellen, dass die Menschen in Europa noch länger so etwas dulden – es sei denn unsere Werte gelten nur dann, wenn sie uns passen!

Die Insulaner wissen inzwischen, dass ihre Insel vorgesehen ist, ein Ort des Martyriums und der Verbannung unschuldiger Menschen im 21. Jahrhundert zu werden. Nach dem mutigen Willkommen von 2015 wissen sie wohl, was es bedeutet, welche Anstrengungen ihnen abverlangt werden, täglich mit dem Elend konfrontiert zu sein, sie wissen auch sehr gut, wie man aus tiefstem Mitgefühl Menschen auf der Flucht helfen kann. Waren sie in den ersten Jahren der massenhaften Ankünfte stolz für das Geleistete, sie sind nicht ohne Grund für den Friedensnobelpreis 2016 vorgeschlagen worden, stehen sie heute vor grundlegenden Verformungen der eigenen Moral! Indem sie wissen, was der griechische Staat und die Europäische Union vor ihrer Türe vorhaben, sind sie entmutigt, sie haben viel zu verlieren! Als erstes werden sie die eigene Würde verlieren, und Das bedeutet viel, viel mehr, als man sich noch vorstellen kann.

Wenn eine Gesellschaft sich an die Verelendung von Kare Tepé – Moria 2 gewöhnt, verliert sie das Gefühl der Scham, verliert sie ihre Menschlichkeit, ihre Werte, ihr Ehrgefühl – das für die Griechen berühmte „Philótimo“. Eine solche Gesellschaft verfügt über kurz oder lang über kein Widerstandsgefühl mehr, hat kein Reservoir an Kräfte um gegen das Böse sich zu wehren. Sie wird von der Dekadenz zerfressen… Bleiben heute die Flüchtlinge schutzlos, folgen ab spätestens übermorgen andere vunerable Gruppen… Und diese Gefahr gilt nicht nur für die Menschen vor Ort. Die schleichende und trotzdem allenortes spürbare Gleichgültigkeit für den Mitmenschen erfasst bald alles. Somit steht die Bevölkerung aller Inseln vor einer richtigen Gefahr! Denn eine ökonomische Krise wird eines Tages gemeistert, aber was geschieht mit dem moralischen Verruf und dem ethischen Verfall? Leicht kann sich eine Gesellschaft davon nicht erholen, und wenn überhaupt erst nach Generationen und unter enormen Anstrengungen. Lehrt uns die Geschichte nicht einiges diesbezüglich?

Wenn dies wohl für den Mikrokosmos der örtlichen Gesellschaften gilt, verhält es sich nicht anders auf der Ebene der Staaten… Die einheimischen Bevölkerungen haben so etwas nicht verdient! Dass sie die Horte der Bestrafung von Unschuldigen, die Zentren der Absetzung jeglicher Humanität, vor ihre Türe bekommen. Dies ist ein gewichtiger Grund, Widerstand gegen die Pläne der griechischen Regierung und infolgedessen der Europäischen Union zu leisten! Wir brauchen keine regierungsaktivistische Politik um das Flüchtlingsdrama in der Ägäis auf Lesvos und Samos und überall an Europas südlicher „Grenze“ zu Lasten und Gefährdung von schutzsuchenden Menschen zu beenden! Wir brauchen eine andere Politik, die die Menschen in ihr Zentrum stellt, wir brauchen eine humane Politik, die die eigenen Werte realisiert, Solidarität praktiziert. Eine Politik, die in die Zukunft führt! Und die Zukunft gehört uns allen! Das können wir schaffen!

Ein Hoffnungsschimmer diesbezüglich stellen dar, die so vielen Initiativen auch hier in Deutschland, die die Aufnahme und die gerechte Verteilung der Flüchtlinge auf europäischer Ebene verlangen!  Damit können wir unsere verlorene Glaubwürdigkeit als Europäer zurückgewinnen, ja auch unsere Menschlichkeit zurückfordern, zurückgewinnen… Das sind wir uns und vor allem unseren Kindern schuldig! Unsere einzige Chance! Die Menschlichkeit…

 

 

Costas Gianacacos

24.1.2021 – München